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Fundamentale Kränkungen (der Menschheit)

Der Homo Sapiens brauchte für seine gedeihliche Entwicklung unter anderem ein „gesundes Selbstbewusstsein“: Je weniger einer weiß, desto großartiger, überlegener, weiser, gött-erwählter kann er sich fühlen - evolutionär ist das von Vorteil. Jede neue Erkenntnis birgt die Gefahr der Lähmung, des Selbstzweifels - sie schmerzt, mindert unser Selbstwert-Gefüjl, denn man muss sich eingestehen, dass man vorher unwissend war bzw. einen Fehler gemacht/geglaubt hat. Unser Hirn hat für solche Fälle (u.a.) den Rückschaufehler erfunden, um zu verhindern, sich mühsamer und sorgfältiger Ausarbeitung stellen zu müssen: Intellektuelle Redlichkeit zu üben und einen kritischen Realitäts-Sinn zu schärfen.

Es gibt eine ganze Industrie, die sich diese Denkfaulheit der Menschen seit Jahrtausenden zu Nutzen macht - wir nennen sie: Religion und Theologie. Sie helfen dem Einzelnen, Gruppen und ganzen Staaten sich den Erkenntnissen und einer bewussten Auseinandersetzung zu verweigern.

Die "klassischen" fundamentalen Kränkungen

Sigmund Freud war es, der das Problem als erster erkannte und die „fundamentale Kränkungen“ benannte1), damals sah er ihrer drei:

  • die Kopernikanische oder auch kosmologische Kränkung: Die Erde (und ihre dominierende Spezies, der Mensch) ist nicht der Mittelpunkt des Universums - entgegen den zahlreichen „offenbarten“ Schöpfungs-Mythen.
  • die Darwinsche oder auch biologische Kränkung: Der Mensch ist durch Evolution entstanden, somit zufällig und nicht durch göttlichen Schöpfungsakt und gehört zur Familie der Primaten.
  • die tiefenpsychologische Kränkung: Der Mensch ist nicht Herr seiner Sinne, sondern besitzt ein umfangreiches und wirkmächtiges Unbewusstes.

Die neuen und ergänzten fundamentalen Kränkungen

Seit Freuds Tagen ist das Wissenschaffen weiter gekommen und die Erkenntnisse erhöhen den Druck auf beliebte Illusionen und Wahnvorstellungen.

  • die ethologische Kränkung: Nicht nur unser Körper, auch unser Verhalten ist durch Evolution entstanden. Beschrieben durch den Zoologen Oskar Heinroth, die Ansätze dieser Erkenntnis sind aber bereits bei Arthur Schopenhauer zu finden.
  • die epistemologische Kränkung: Unser Erkenntnisvermögen ist evolutionär entstanden und ist beschränkt auf die Gegebenheiten, unter denen unsere Spezies überleben musste. Wir können zwar ohne Probleme z.B. die Kurve eines Balles berechnen, aber selbst simple Statistik ist kontra-intuitiv für uns (s.a. Spieler-Fehlschluss).
  • die soziobiologische Kränkung: Unsere Moral ist Produkt der Evolution, sie basiert auf einem genetisch-memetischen Egoismus2). Postuliert erstmals von Edward O. Wilson in 1975.
  • die ökologische Kränkung: Wir leben von und in einer Biosphäre, die wir nicht beherrschen und in weiten Teilen nicht einmal durchschauen (Beispiele sind Erdbeben und Seebeben, Wetter und Klima(-Katastrophe)).
  • die kultur-relativistische oder politisch-ökonomische Kränkung: Alles, was wir Menschen kulturell hochschätzen - Ideale, Religionen, Künste etc. - sind nicht „ewig“, nicht über-historisch. Im Gegenteil sind sie von techn. Faktoren, sowie den Besitz- und Herrschaftsverhältnissen der jeweiligen Gesellschaft3).
  • die paläontologische Kränkung: Die Menschen sind eine sehr junge Spezies unter vielen anderen, die bereits ausgestorben sind. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie nicht ebenso aussterben könnten (z.B. durch eine selbstgenerierte Klima-Katastrophe, einen Atomkrieg oder Seuchen)4).
  • die evolutionäre Kränkung der Fortschritts-Erwartung: Evolution hat als Ziel nicht die Verbesserung, sie führt nicht zu höher entwickelten Lebens-Stufen5), wie sich z.B. christliche Neo-Mystiker wie Pierre Teilhard de Chardin zusammengesponnen haben, um ihr Gottesbild in die Evolution einzubinden.
  • die neurobiologische Kränkung: Was wir als „Ich“ bezeichnen, besteht aus vielen, großenteils unbewussten und von uns unbeeinflussten Prozessen; der „freie Wille“ existiert nur in unserer Vorstellung; der Körper-Geist-Dualismus ist faktisch widerlegt, denn alle unsere Wahrnehmungen werden in unserem Hirn abgebildet und können dort auch künstlich hergestellt werden, sprich: Erfahrungen, Denken und Fühlen sind erst und nur durch einen Organismus möglich - eine unsterbliche Seele findet hier nur in der Vorstellung einen Platz.
1)
s. Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Freud, Sigmund: Studienausgabe. Frankfurt/M. 1969, Bd. 1, S. 283f
2)
Dawkins, Und es entsprang ein Fluss in Eden; Voland, Grundriss der Soziobiologie
3)
s. Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit
4)
Stephen J. Gould, Entdeckung der Tiefenzeit, 1990
5)
Franz Wuketits, Naturkatastrophe Mensch. Evolution ohne Fortschritt, 1998
fundamentale_kraenkungen.txt · Zuletzt geändert: 2022/07/16 10:44 von hkolbe